#ungehindertRIESIG – Simone Fischer/Claudia Lychacz

Category News, Teamplay Date 2023-01-13

#ungehindertRIESIG hat nach unserem Kick-Off am 06.11.2022 hohe Wellen geschlagen, positiv wie negativ.
Kritik wie Greenwashing oder mangelnder Blick auf die Kritikpunkte in Sachen Barrierefreiheit in der MHPArena wurden angemahnt.
Aber GENAU DAFÜR wurde #ungehindertRIESIG ins Leben gerufen, um genau diese Schwachstellen anzugehen.
Und aus welchem Blickwinkel lässt sich Inklusion in Ludwigsburg und Baden Württemberg wohl am besten betrachtet, wenn nicht aus Expertensicht.

Was bedeutet überhaupt Inklusion, welche Bereiche sind davon betroffen und wie lassen diese sich auf die MHP RIESEN und den Heimspieltag in der MHPArena übertragen?

Im Austausch mit zwei super sympathischen und beeindruckenden Frauen und parallel die Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung von Ludwigsburg Claudia Lychacz und von Baden-Württemberg Simone Fischer. Vielen Dank für eure fachliche Unterstützung, den tollen Austausch und das direkte sowie ehrliche Feedback!

Interview: Simone Fischer

 

RIESEN: „Es ist spannend, dass ich daran mitwirken kann, wie Inklusion sich in Stuttgart weiterentwickeln kann“. Das sagten Sie 2018 im Interview mit der Seite „Machen-wir-was“, damals noch als Beauftragte für Menschen mit Behinderung der Landeshauptstadt Stuttgart. Inzwischen sind Sie als Landes-Behindertenbeauftrage für ganz Baden-Württemberg verantwortlich. Wie haben Sie seitdem denn die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft wahrgenommen und welche Schritte/Meilensteine wünschen Sie sich perspektivisch?

Simone Fischer: Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen war und ist noch nicht selbstverständlich. Das hat uns gerade die Corona-Pandemie deutlich vor Augen geführt. Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen waren und sind von den Folgen der Pandemie stärker betroffen. Hier sind beispielsweise die Selbstbestimmung und Autonomie von Menschen, die in besonderen Wohnformen leben, zu nennen. Sie erlebten strenge Regeln in ihrem eigenen Zuhause, den Einrichtungen. Oder Angehörige, die in der Pflege und Förderung ihrer schwerbehinderten Kinder und Erwachsenen zuhause Beachtliches leisten. Wir mussten in den letzten Monaten wieder an bereits Erreichtem anknüpfen und müssen auch ein gutes Stück Anlauf nehmen, um bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen weiter voranzukommen. Ich nehme eine große Kraft wahr, dass behinderte Menschen sich für echte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen einsetzen, und damit auch für sich und ihre Belange. Seit Sommer arbeiten wir auf Landesebene partizipativ an der Fortschreibung des Landes-Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Baden-Württemberg. Die Federführung liegt beim Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration, alle Ministerien wirken daran mit. Aktuell werden die Ergebnisse dieses Prozesses, an dem sich alle Bürger*innen beteiligen konnten, zusammengetragen. Sie sollen den Ministerien und der Politik vorgelegt und dann verabschiedet werden, um in die Umsetzung zu kommen. Ich bin sicher, dass wir gemeinsam gute Ergebnisse auf den Weg bringen und Maßnahmen erarbeitet haben. Ziel ist, dass die Bürger*innen mit Behinderungen Wirkung und tatsächliche Verbesserungen in ihrem Alltag spüren. Es geht zum Beispiel um barrierefreie Mobilität, das Gesundheitssystem oder die Themen inklusiver Bildung und Erziehung und vieles mehr. Schließlich soll der Landes-Aktionsplan vor allem auch ein Strategie-Instrument sein, wie die Inklusion in Baden-Württemberg jetzt und in den kommenden Jahren ausgerichtet werden soll. Die Beteiligung der Menschen mit Behinderungen ist dabei für mich entscheidend. Das Motto meiner Amtszeit lautet: „Beteiligung schafft Gesellschaft. Einfach Inklusion.“

RIESEN: Nun um vom allgemeinen Blickwinkel auf Sie als Person überzuleiten: Sie beschrieben es als Ihre Aufgabe Ideen zu entwickeln, wie Inklusion weiterentwickelt werden kann und anschließend bei der Umsetzung dieser zu helfen. Was sind denn konkrete Aufgaben im Alltag einer Landes-Behindertenbeauftragten?

Simone Fischer: Ich sehe meine Aufgabe darin, die Landesregierung zu beraten und beizutragen, dass wir mindestens die Ziele des Koalitionsvertrages erreichen. Dabei spielen für mich die Anliegen der Menschen mit Behinderung selbst die wesentliche Rolle. Bei Gesetzen und Verordnungen des Landes nehme ich Stellung und bringe die Belange behinderter Menschen ein. Ich wirke daran mit, dass gesetzliche Rahmenbedingungen diese besser berücksichtigen und bestehende Gesetze im Sinne der Menschen mit Behinderungen angewendet werden. Wenn der Gedanke der Inklusion unser Kompass bleibt, ist sichergestellt, dass alle Menschen faire Lebensbedingungen vorfinden. Das Recht der Selbstbestimmung, Barrierefreiheit und die natürliche Chance zur Teilhabe sind noch keine Selbstläufer. Sie sind aber auch kein Nice to have‘. Für den Einzelnen und für das Zusammenleben aller sind sie ‚Must have‘. Ich bin im ganzen Land unterwegs, besuche Menschen mit Behinderungen, die beispielsweise in Einrichtungen leben, spreche mit Menschen, die sich in Vereinen engagieren oder mit Arbeitgebern, die erkennen, dass die Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen ihr Unternehmen in vielerlei Hinsicht stärkt. Ich erlebe engagierte Initiativen und Bürger*innen, die unsere Belange mitdenken und sich dafür einsetzen, dass Teilhabe vor Ort funktioniert. Wir brauchen diese Verbündete. Dabei gehe ich offen auf Menschen zu, bin verbindend und arbeite an konstruktiven Lösungen, ich arbeite daran, die Belange von Menschen mit Behinderungen stärker in die Öffentlichkeit zu tragen und sie auf Landeseben sichtbar und hörbar zu machen. Ziel ist die Stärkung der Selbstvertretung behinderter Menschen. Unsere Repräsentation im Alltag, in Politik, Wirtschaft, Behörden, in Gremien und entscheidenden Stellen ist entscheidend. Sie macht sichtbar, schafft Akzeptanz und Normalität. Ich habe den Vorsitz des Beirates für die Belange der Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg inne, wirke in vielen Gremien auf Landesebene mit und nehme nach § 14 Landes-Behindertengleichstellungsgesetz eine Ombudsfunktion wahr, d.h. ich erfülle die Aufgabe einer Schiedsperson.

RIESEN: Sie werden täglich mit dem Begriff „Inklusion“ und der damit einhergehenden Herausforderungen konfrontiert. Unser Projekt ungehindertRIESIG möchte auf genau diese Herausforderungen aufmerksam machen. Was sind Werte, oder Möglichkeiten, die Sie aus dem Sport bzw. dem sportlichen Miteinandergedanken für eine Inklusionsförderung der Gesellschaft ziehen können?

Simone Fischer: Sport und Gemeinschaft sind wichtige Schlüssel für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am Leben in der Gesellschaft. Im Sport ist vieles möglich, für alle Menschen. Er hält fit und gesund. Wer Sport treibt, kann persönliche Grenzen überwinden, sein Selbstvertrauen stärken und seine persönliche Entwicklung fördern. Im Sport erlebt man Gemeinschaft, feiert Erfolge miteinander und überwindet gemeinsam Niederlagen. Sport kann für Prävention und Rehabilitation sorgen. Er schafft Zugänge und fördert soziale Kontakte, er verbindet. Sport ermöglicht nicht nur Teilhabe, sondern auch Teilgabe – das heißt: wo finden wir Chancen, Plätze und Räume, uns einzubringen und unsere Gesellschaft, einen Verein, ein Team mit unseren Talenten zu bereichern?

RIESEN: Auf die Frage nach ihrer Jobmotivation sprachen Sie im Interview mit dem Sozialministerium von dem Willen sich konstruktiv für ein Barrierefreies Land einzusetzen. Was sind kleine Verhaltensweisen, mit denen sich jeder Mensch im Alltag zu einem solchen gesamtgesellschaftliches inklusives Zusammenleben beitragen kann?

Simone Fischer: Barrierefreiheit hat viele Gesichter. Es ist hilfreich, wenn Menschen im Bewusstsein haben, sich ohne Vorbehalte zu begegnen. Im Zweifel hilft es, bei Unsicherheit direkt beim Gegenüber höflich nachzufragen. Oder, achten Sie konkret auf Stufen und Barrieren in Ihrem Umfeld, die mobilitätseingeschränkten Personen im Weg sein könnten. Aktuell könnten das z.B. E-Roller sein, die wahllos auf Bordsteinen stehen, die Sie nicht einfach stehen lassen, für die Sie sich verantwortlich fühlen, die Sie sie aus dem Weg räumen. Auch wenn die Verlockung groß ist, „nur mal eben kurz“ auf dem Schwerbehindertenparkplatz zu parken – lassen Sie ihn immer für diese Berechtigten frei. Es schadet nicht, ein paar Grundvokabeln der Gebärdensprache drauf zu haben. Die Gebärden „Hallo“, „Wie geht’s?“ „Danke“ und „Tschüß“ sind easy, sie öffnen Türen und Herzen. Wenn Sie die Möglichkeit haben: Beschäftigen Sie eine schwerbehinderte Person in Ihrem Team oder setzen Sie sich bei Ihrem Chef und den Kolleg*innen dafür ein. Im Sport konkret: Können Sie Mitmenschen in Ihr Sport-Angebot einbinden? Manch einer Person traut man es möglicherweise erst gar nicht zu, sich sportlich zu interessieren. Der Eine oder die Andere braucht vielleicht ab und zu nur eine Mitfahrgelegenheit, jemanden, der den Eintritt ins Team erleichtert oder eine mobile Rampe am Vereinsheim. Ich möchte hier den Begriff „Sorgende Gemeinschaften“ aufgreifen. Damit will ich sagen: Sorgen Sie nicht nur für sich selbst, achten und sorgen Sie auch für andere gut, soweit wie möglich.

RIESEN: Nehmen wir an Sie haben die Möglichkeit in einem Spot zur Primetime im Fernsehen eine Botschaft, oder völlig egal was an alle Zuschauer richten. Was würden Sie gerne sagen?

Simone Fischer: Wenn wir ein Land sein wollen, in dem wir Miteinander stark sind, in dem sich alle als gleichwertige Mitglieder unserer Gesellschaft fühlen können, müssen wir dafür sorgen, in allen Lebensbereichen Barrieren abzubauen und den Teamgeist zu entwickeln, der beispielsweise den Sport so einzigartig macht.

Inklusion bedeutet mehr als Teilhabe. Sie bedeutet, selbstverständlich Teil der Gesellschaft zu sein. Dafür brauchen wir Sie – Menschen und Verbündete, die sich mit uns für unsere Belange stark machen und einsetzen. Wir investieren bei der Barrierefreiheit und Inklusion in Menschen, ihre Fähigkeiten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Eine inklusive Gesellschaft lebt durch Vielfalt und Akzeptanz, sie schließt alle ein. Lassen Sie uns Tempo machen, damit wir gemeinsam vorankommen, um ein in jeder Hinsicht inklusives und barrierefreies Land zu sein.

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